Arno Orzessek
Die Begründung der Jury
Emma Braslavsky erzählt über Vertriebene in der DDR. Mit ihrer vielschichtigen Annäherung an das Schicksal der Sudetendeutschen wagt sich die der Enkel-Generation angehörende Autorin auf ein bislang weitgehend gemiedenes literarisches Feld.
Wie Uwe Johnson verfolgt Ema Braslavsky, welche „Profiltiefe der Prägung“ politische und gesellschaftliche Zwänge beim Einzelnen hinterlassen. Auf mehreren gekonnt verzahnten Erzählebenen werden Lebenswege zwischen 1939 und 1969 erfahrbar.
Der Roman „Aus dem Sinn“ gestaltet Zeitbrüche. Eine beeindruckende Fülle von grotesken Situationen und liebenswerten skurrilen Figuren bietet dazu einen ganz heutigen, distanzierten Kommentar. Die Protagonisten haben vor zwei Jahrzehnten Heimat und Landschaft verloren. Sie richten sich ein zwischen Anpassung und Aufbegehren. Sie verweigern sich der Vergangenheit und bewahren Herkunft und Tradition in der Sprache ihrer Jugend. Dabei bleiben sie letztendlich den anderen und sich selbst fremd. Beschwörungen sudetendeutscher Kultur verdecken deren Sinn.
Zudem lasten Versäumnisse und Verschwiegenes auf den Figuren.
Die Autorin findet eine doppelte Zwickmühle für die ehemaligen Egerländer und Schlesier im Erfurt des Jahres 1969, die zumeist absurdes Geschehen verursacht oder begleitet. Zum einen haben kulturelle Unterschiede offiziell als überwunden zu gelten und zum anderen werden auch oder gerade Freizeit-Musiker als klassenkämpferische Instrumente ideologisch vaterlandsstärkend verpflichtet.
Emma Braslavsky zeichnet Komisches und Tragisches mit großartiger Sprachkraft und liefert eine spannende Kultur- wie auch DDR-Geschichte. Wie bei Uwe Johnson werden die Gefahren von Gedächtnisverlust erzählerisch durchgespielt.
Zum Buch
Die achtzehnjährige Marie Schattauer, das bezaubernde, scheinbar naive Kind masurischer Gebetsleute, verliebt sich, zwischen Geboten und Gelüsten hin- und hergerissen, im August 1937 in den lebenslustigen Leutnant Hermann Eckstein und folgt ihm gegen den Willen der Eltern nach Westen. Es ist ein Aufbruch in glückliche, in finstere Zeiten – in die Liebe und den Krieg.
Auch Eduard Manthey, ein ambitionierter, über seine proletarische Herkunft verdrossener Osnabrücker Gymnasiast, fasst 45 Jahre später den Entschluss, seine Wurzeln auszureißen. Er allerdings möchte an die „Spitze der menschlichen Pyramide“. Zu seinem Mentor avanciert Dr. Gustav Eckstein, Rhetoriklehrer am Karlgymnasium, der entweder als „Zauberer“ verehrt oder als „Opium für die Oberstufe“ beschimpft wird. Denn er verführt seine Schüler nach allen Regeln der Kunst; die einen zu Machtphantasien, die anderen zum Sex. Zwischen Eduard und Eckstein entwickelt sich eine gewaltige Hassliebe – weit über die Schulzeit hinaus. Der Showdown reißt alles mit sich.
Jahrzehnte liegen zwischen den Ereignissen um Marie und Eduard – aber wie sich herausstellt, gehören sie zur selben, spektakulären Familiengeschichte, in der die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts aufscheint. In kompromisslos zupackender Sprache erzählt Arno Orzessek durch die Jahrhunderte, immer hautnah an seinen Personen, manchmal sehr ernst, meistens sehr witzig, leidenschaftlich gern mit erotischer Finesse. Schattauers Tochter setzt sich fest in Gedanken und Gefühlen. Es ist ein kühner Roman, der Spaß macht und erschüttert..
zum Autor
Arno Orzessek ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist. 1994 schloss Orzessek sein Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln ab. Seither arbeitet er als Journalist u.a. für die Süddeutsche Zeitung (bis 2005) sowie für Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk.
Sein erster Roman „Schattauers Tochter“ erschien 2005 zunächst im Verlag Rogner & Bernhard exklusiv für Zweitausendeins und ein weiteres Mal 2007 als Hardcover im Steidl Verlag.