Jürgen Becker
Die Begründung der Jury
Jürgen Becker erzählt in seinem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“ von Menschen im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Leben durch den Einfluss der verschiedenen politischen Systeme bis ins kleinste geprägt und in ungewollte Bahnen gelenkt wird.
Durch seinen souveränen Umgang mit Form und Funktion der Erinnerung und der immanenten Befragung der Vertrauenswürdigkeit des Gedächtnisses stellt dieser Roman, vergleichbar Uwe Johnsons „Jahrestagen“, den Kampf der Einzelnen um ihre Identität dar. Damit bezeugt er in eindrücklicher Weise die Macht der Erfindung über die Wirklichkeit.
Aus der Dankesrede von Norbert Gstrein zum Uwe-Johnson-Preis
„(…) Uwe Johnson läßt die „Jahrestage“ 1968 enden, aber mitunter habe ich mich gefragt, was aus Gesine und Tochter Marie wohl geworden ist. Mit dem Ende des Romans erlaubt es unsere Imagination noch lange nicht, das auch das Leben aller seiner Personen zu Ende sei, sie existieren in der Vorstellung weiter in der Weise, wie sie der Verfasser realisiert hat: als Personen, die aus der Fiktion des Romans sich entfernt und verselbstständigt haben.(…).“
Zum Buch
Jürgen Beckers erster Roman wäre nicht entstanden ohne den Fall der Berliner Mauer, ohne die Wiedervereinigung. Seitdem reist Jörn Winter hin und her zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald. Magischer Anziehungspunkt ist der märkische Schwieloch-See, wo seine Mutter ums Leben gekommen ist.
Fünfzig Jahre nach ihrem nie geklärten Tod findet er den Weg dorthin. Vergangene Wirklichkeiten kehren zurück: Kriegsgeschehen, Luftangriffe, Jungvolkjahre, NS-Bauten, Evakuierungen, Plünderungen, Todesfälle, die Scheidung der Eltern. Im Niederen Fläming, in Wiepersdorf, macht die Begegnung mit dem Wirt des Dorfkrugs, einem Mann seines Alters, die Unterschiede der Biographien deutlich. Mit der Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen verspürt Jörn zugleich die Hoffnung, daß die Geschichte der Trennungen zum Ende kommt.
Jürgen Beckers bewegender Roman steht beispielhaft für sechzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts; es ist ein Roman von den Widersprüchen der deutschen Erfahrungen.
zum Autor
Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Während der Kriegs- und Nachkriegsjahr, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwiek/Harz und Waldbröl kam er 1950 nach Köln zurück. 1953 Abitur. Nach kurzem abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller, seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist.
Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rohwolt und Suhrkamp. 20 Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch „Felder“ (1964); die beiden folgenden Bücher „Ränder“ (1968) und „Umgebungen“ (1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten Hörspielen („Bilder, Häuser, Hausfreunde“) am Entstehen des „Neuen Hörspiels“ mit.
In seinem 1971 veröffentlichten Fotobuch „Eine Zeit ohne Wörter“ verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die künstlerischen Grenzüberschreitungen der Avantgard hatte er 1965 bereits mit dem Band „Happenings“ dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-Künstler Wolf Vostell. In den 70er und 80er Jahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbücher darunter „Das Ende der Landschaftsmalerei“ (1974), „Odenthals Küste“ (1986), „Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft“ (1988) platzierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie.
Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher „Erzählen bis Ostende“ (1980) und „Die Türe zum Meer“ (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: „Fenster und Stimmen“ (1989), „Korrespondenzen mit Landschaft“ (1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, „Geräumtes Gelände“ (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.
Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben Jürgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der Orte und Landschaften zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald motivierten seine Gedichtbände „Foxtrott im Erfurter Stadion“ (1993) und „Journal der Wiederholungen“ (1999), die Erzählung „Der fehlende Rest“ (1997) und vor allem den im Sommer 1999 erschienenen Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“. Mit den Vorbereitungen dazu begann er während eines Stipendiums im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf.
„Aus der Geschichte der Trennungen“ ist Jürgen Beckers erster Roman; eine bewegende, persönliche Geschichte, die zugleich von den Widersprüchen der deutschen Erfahrungen erzählt. Jürgen Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Villa Massimo Stipendium, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich Böll Preis. Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, sowie des PEN-Clubs.